Ukrainische Kinder und Jugendliche in BayernIn Bayern ankommen – und am Ball bleiben
Ein Erfahrungsbericht von Gabriele Kuen, Schulleiterin am Martin-Behaim-Gymnasium in Nürnberg:
Pfingstferien 2022 in Bayern. Für Nikolaj (17), Lew (15) und Vlad (14) sind es bereits die zweiten Schulferien, die sie seit ihrer Flucht aus der Ost-Ukraine als Schüler am Martin-Behaim-Gymnasium in Nürnberg verbringen. Sicher wäre zu Beginn des Schuljahres allein der Gedanke, dass sie dieses nicht an ihrem vertrauten College in Charkiw beenden könnten, unvorstellbar gewesen. Doch mit dem 24. Februar – dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf ihr Heimatland – hat sich ihr Leben und das ihrer Familien dramatisch verändert.
Die drei Jugendlichen sind Teil einer Wasserballmannschaft aus Charkiw, der Partnerstadt Nürnbergs. Bei den „Barracudas“, dem befreundeten Wasserballteam des 1. FC Nürnberg, fanden sie nicht nur sportliche Aufnahme. Marc Steinberger, Wasserballwart, Jugendleiter und Trainer bei den „Barracudas“ organisierte Gastfamilien und stellte den Kontakt zum Martin-Behaim-Gymnasium, seiner ehemaligen Schule, her.
Oberste Priorität: Wasserball spielen und Deutsch lernen
Seit gut zwei Monaten gehören nun Nikolaj, Lew und Vlad einer der beiden Willkommensgruppen an unserem Gymnasium an – Zeit für eine erste Zwischenbilanz, zu der ich die Schüler in den Ferien eingeladen habe. Mit dabei ist Daniela (16), Schülerin aus der 10. Klasse, die wie viele andere Kinder und Jugendliche am Behaim Russisch bzw. Ukrainisch spricht und daher schon als Dolmetscherin geholfen hat.
So auch bei besagtem Ferientermin bei mir als Schulleiterin, die einmal in der Woche – wie viele andere Lehrkräfte – ihr Bestes beim DaZ-Unterricht in der Willkommensgruppe gibt. Zum Glück haben wir in unserem Lehrerteam Kolleginnen und Kollegen mit einer DaZ-Ausbildung und einer langjährigen Erfahrung im InGym-Projekt sowie eine ukrainische Lehrerin. Insgesamt haben sich Ende März umgehend 16 aktuelle und ehemalige Lehrkräfte bereiterklärt, bei der Beschulung der ukrainischen Kinder und Jugendlichen mitzuhelfen.
Nikolaj, Lew und Vlad sind – wie die anderen Mitglieder ihrer Wasserballmannschaft – froh darüber, am Behaim eine schulische „Zwischenheimat“ gefunden zu haben, wenngleich die Unsicherheit, wie und wo ihr Leben weitergeht, natürlich von allen als Belastung empfunden wird. Nach ihrer Motivation gefragt, trotz unklaren Bleibeperspektive jeden Tag in eine deutsche Schule zu gehen, sind sie sich schnell einig: „Was bleibt uns gerade übrig, als so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Das ist notwendig, um sich überhaupt hier zurecht zu finden. Wir wissen ja nicht, wann der Krieg zuhause vorbei sein wird.“ Nikolaj, der Älteste der drei Jugendlichen, hat darüber hinaus bereits konkretere Ziele: „Ich möchte die deutsche Sprache bis zum September so gut beherrschen, dass ich eine 10. Klasse besuchen kann. Mein Ziel ist es, die Schullaufbahn hier in Deutschland abzuschließen.“ Von seiner Schule in Charkiw, einem wirtschaftswissenschaftlichen College, erhält er zusätzlich regelmäßig Lernmaterial, das er selbstständig an den Nachmittagen bearbeitet.
Für Lew und Vlad steht der Sport im Mittelpunkt ihres Interesses, da beide bisher auch ein Sportcollege in Charkiw besucht haben. Vlads Berufswunsch geht daher in diese Richtung: „Ich möchte später einmal Trainer oder Physiotherapeut werden.“ Er ist mit seiner Mutter aus der Ukraine geflohen, sein Vater ist in Charkiw geblieben, wie auch die Eltern von Lew. Sie stehen zwar in täglichem Telefonkontakt, wissen aber nicht, ob sie in näherer Zukunft wieder zusammenleben werden – entweder in der Ukraine oder in Deutschland. „Meine Eltern können es sich nicht leisten, nach Deutschland zu kommen. Außerdem möchten sie das Haus nicht aufgeben“, erzählt Lew. Er ist froh, seine Wasserball-Freunde in seiner Nähe zu haben.
Die besondere Situation, dass sich in den Willkommensgruppen alle in derselben Muttersprache verständigen können, erschwert das Deutschlernen, aber auch den Unterricht in anderen Fächern wie Mathematik, Englisch oder Geographie – diese Erfahrung teilen alle Lehrkräfte, die in den Willkommensgruppen unterrichten. „Das ist ein großer Unterschied zu einer InGym-Klasse, in der 15 Kinder aus vielen verschiedenen Ländern kommen. Sie erkennen rasch die Notwendigkeit, Deutsch zu lernen, um sich untereinander in einer gemeinsamen Sprache verständigen zu können“, sagen die DaZ-Kollegen.
Schule hier und dort: Was ist anders, was ist gleich?
Es ist aber nicht nur die Sprache, die für die ukrainischen Kinder und Jugendlichen neu ist, sondern auch der Unterrichtsstil und überhaupt der Schulalltag. Auf die Frage, welche Unterschiede zu ihrer Schule in der Ukraine ihnen am meisten auffallen, nennen die drei Jungs die begrenzte Nutzung ihrer Handys in der Schule. Das empfinden sie – und darin unterscheiden sie sich wohl im Grund auch nicht von deutschen Jugendlichen – als Einschränkung ihrer Freiheit. Aber es gibt aus ihrer Sicht auch Vorteile gegenüber ihrer bisherigen Schule: „Wir dürfen in unserer ukrainischen Schule während der Pausen nicht einfach so raus zum Basketball- oder Fußballspielen.“ Außerdem sei die technische Ausstattung besser. „An unserer Schule gibt es höchstens zwei oder drei Docucams für alle Klassen.“
Was Disziplin und Respekt vor den Lehrkräften angeht, betonen die drei übereinstimmend: „Das hängt immer vom Lehrer ab. Natürlich ist es hier manchmal für uns schwer zu kapieren, was ein Lehrer gerade von uns will, weil weder die Verständigung auf Deutsch noch auf Englisch funktioniert.“ Aber insgesamt gefiele ihnen der Unterricht in der Willkommensklasse, beispielsweise die Grammatik- und Ausspracheübungen, gut. Alles könne im Grunde so bleiben wie bisher.
Wünsche für das neue Schuljahr
Dass die Halbwertszeit eines solchen Resümees in der aktuell unsicheren Situation in der Ukraine nicht allzu lange ist, ist Nikolaj, Vlad und Lew natürlich klar. Dennoch lassen sie sich am Ende unseres Gesprächs doch noch alle drei auf einen Ausblick auf das neue Schuljahr ein. Nikolajs Plan steht ja bereits fest: Er will die Sommerferien zum selbstständigen Deutschlernen nutzen und hat schon einen Platz als Gastschüler in einer Regelklasse angefragt. Vlad möchte auch im nächsten Schuljahr in einer Art Willkommensgruppe bleiben, am liebsten natürlich wie bisher mit seinen Wasserballfreunden. Weitere soziale Kontakte darüber hinaus, zum Beispiel auch zu anderen Schülerinnen und Schülern des Behaim-Gymnasiums, vermisst er nicht, außer vielleicht zu denen, die Russisch oder Ukrainisch beherrschen. Lew möchte ebenfalls gern an unserer Schule bleiben, egal ob in einer rein ukrainischen Klasse, in InGym oder in einer Regelklasse.* Mein persönlicher Anspruch ist es, für jeden der drei, wie für die anderen Kinder und Jugendlichen unserer Willkommensgruppen, jeweils eine gute Perspektive zu finden.
* Frau Kuen hat den Beitrag verfasst, bevor das neue Rahmenkonzept des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zur Beschulung der ukrainischen Kinder und Jugendlichen für das Schuljahr 2022/23 veröffentlicht wurde. Hilfreiche Informationen dazu finden Sie hier oder über den untenstehenden Link.
Gabriele Kuen
Gabriele Kuen ist seit 2015 Schulleiterin am Martin-Behaim-Gymnasium, einer Schule im Süden Nürnbergs mit der Tradition, Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer kulturellen und sozialen Herkunft die Chance auf die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer Talente zu eröffnen – und das nicht nur und in erster Linie im Blick auf die evaluierbare Leistung, die im Zeugnis steht. Ein von gegenseitigem Respekt geprägtes Menschenbild und demokratische Werte in der Schule für die Schülerinnen und Schüler erlebbar zu machen, ist daher die zentrale Intention der Schulleiterin und ihres Teams.