ErinnerungskulturEine Klasse – viele Schicksale

Unsere Schule, das heutige Franz-Ludwig-Gymnasium und damalige Neue Gymnasium Bamberg, war seit ihrer Gründung im Jahr 1890 für alle Konfessionen geöffnet. Schon frühere Schulprojekte beschäftigten sich mit der Erinnerung an die über 300 jüdische Schülerinnen und Schüler, die unsere Schule bis zum Verbot durch das NS-Regime 1938 besuchten.

In der Corona-Pandemie entstand zunächst die Idee, sich intensiver mit der Zeit des Nationalsozialismus und dem Leben unserer Schülerinnen und Schüler zu beschäftigen. Wie sahen die Klassen aus? Welche Fächer wurden unterrichtet? Welche Zukunftspläne hatten die Jugendlichen? Mit diesen Fragen im Kopf starteten wir in unser Projekt.

Das Jahr 1930 schien uns besonders geeignet als Ausgangspunkt der Recherche, da dieser Jahrgang im Jahr 1938 sein Abitur machen würde. Wie viele Schülerinnen und Schüler würden dieses Ziel erreichen? Wie viel Veränderungen würde es in den Jahren 1930 bis 1938 im Schulalltag geben? Würden wir auf Besonderheiten treffen?

Die Ergebnisse der Recherche übertrafen all unsere erhofften Ziele: Wir fanden neben Jahresberichten und Schulaufgabenthemen alte Klassenlisten mit Originalnoten. Diese unterschieden sich wenig vom heutigen Notenbild. Uns wurde bewusst, dass die später im Krieg gefallenen Soldaten Johann, Karl, Ernst und viele mehr nur wenige Jahre zuvor mit Problemen wie der Mathematiknote oder der Abfrage in Latein zu kämpfen hatten.

Gleichzeitig interessierten wir uns für die Veränderungen im Schulalltag, wobei wir auf die zunehmende Ausgrenzung der jüdischen Schülerinnen und Schüler stießen, aber auch auf bis dahin noch Unentdecktes. Die alten ministeriellen Schreiben zeigten uns, dass der Schulleiter Dr. Schäfer sehr mutig den humanistischen Geist der Schule vertreten und bis zum Schluss versucht hat, allen jüdischen Schülerinnen und Schüler das Neue Gymnasium offen zu halten. Die Themen Flucht und Exil wurden somit ein neuer Schwerpunkt in unserem Projekt und wir mussten uns damit auseinandersetzen, dass auch Deportationen und Vertreibungen ein Teil unserer Recherche sein werden.

Um Aufmerksamkeit für unser Projekt zu erzeugen und möglicherweise Zeitzeuginnen und- zeugen zu aktivieren, haben wir während der Corona-Zeit folgenden Trailer gedreht: 

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Bild: Eine Schulklasse aus dem Jahr 1930.
© Franz-Ludwig-Gymnasium BambergDurch den Kontakt mit dem Sohn einer ehemaligen Schülerin des Gymnasiums wurden wir auf ein Klassenfoto des Jahres 1930 aufmerksam, welches uns weitere neue Informationen präsentierte.

Ein nicht minder interessantes Seitenthema: Eine Cousine und ihr Cousin, deren jeweilige Stiefväter nicht konträrer sein konnten, waren zusammen in einer Klasse: Karl Freiherr von Thüngen (als Widerstandkämpfer 1944 hingerichtet in Zusammenhang mit dem Stauffenberg-Attentat) und Willy Messerschmitt (deutscher Flugzeugkonstrukteur mit großer Sympathie zum Nationalsozialismus).
 

Im Zuge der Recherche stellten wir uns hinsichtlich der Fülle an Informationen immer wieder die Fragen: Wo anfangen? Wo aufhören? Letztendlich entschieden wir uns bewusst dazu, den Fokus die Aufarbeitung der Schicksale der jüdischen Schülerinnen und Schüler zu legen und zunächst durch kleine Biopics die Recherche zu dokumentieren.  

Bild: QR-Code
QR-Code abscannen und Biopic anschauen.

Eine Idee nimmt Gestalt an

Für die Biopics der jüdischen Schülerinnen und Schüler wurden wir mit dem Margot-Friedländer-Preis 2022 ausgezeichnet, der uns ideelle und finanzielle Unterstützung durch die Schwarzkopf-Stiftung gewährte. Mit dieser Auszeichnung wurde es für uns auch um einiges leichter mit außerschulischen Institutionen in Kontakt zu treten, wie z. B. diversen Archiven oder den späteren Drehorten.

Inspiriert von dem Erfolg der Biopics, kam dem Wahlkurs „Dramatisches Gestalten“ eine Idee, mit der das Projekt noch weiterentwickelt werden könnte: ein eigener Spielfilm.  

Bild: Eine Schülerklasse bespricht sich und steht dabei auf einem Platz.
© Franz-Ludwig-Gymnasium BambergDer Wahlkurs „Dramatisches Gestalten“ bei einer Führung durch das NS-Dokumentationszentrum München.

Die Grobstruktur des Films wurde bei einer Exkursion nach München erarbeitet, bei der wir auch eine Führung durch das NS-Dokumentationszentrum, ehemals „Braunes Haus“, bekamen. 
Im weiteren Verlauf des Projekts teilten sich die Schülerinnen und Schüler auf verschiedene Spezialthemen auf. Bevor mit dem eigentlichen Dreh begonnen werden konnte, erarbeiteten sie u. a. die Themen Storyboard, Schnitt, Licht, Ton und Dialogführung.

Schritt für Schritt zum schuleigenen Spielfilm

Von Anfang an war uns bewusst, dass wir den Fokus auf die Schuljahre der Hauptpersonen des Films legen mussten. Szenen nach 1938 sollten vermieden werden. Lediglich der Anfang des Films wird 1942 verortet: Die Geschichte wird aus der Perspektive des jungen Johann erzählt, welcher sich inmitten des Kriegsgeschehen im Schützengraben befindet und sich an seine Schulzeit und seine Jugendliebe Hildegard erinnert.

Da der Film die Entwicklung der Klasse von 1930 bis 1938 begleiten sollte, benötigten wir das Engagement unterschiedlicher Klassenstufen beim Dreh. Die Einbindung der gesamten Schulfamilie war somit eine naheliegende Folge. Referendarinne und Referendare aus dem Studienseminar sowie Mitglieder der Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe beteiligten sich am Projekt. An den Massenszenen im Schulhaus durften alle interessierten Jugendlichen unseres Gymnasiums teilnehmen. 

Bild: Die Theater-AG des Gymnasiums in ihren Kostümen
© Franz-Ludwig-Gymnasium BambergHinter den Kulissen: Mitglieder des Wahlkurses „Dramatisches Gestalten“ des Franz-Ludwig-Gymnasiums.

Effekte wie Ton, Farbgebung und Schnitt wurden vor allem durch den Oberstufenkurs erarbeitet. Auch die Rahmenhandlung wurde intensiv diskutiert und immer wieder überarbeitet.

Die vielen Flashbacks im Film (= Erinnerungen von Johann im Schützengraben) werden durch Tinitus-Geräusche und wirre Bilderfolgen von der Haupthandlung getrennt. Diese Erinnerungen werden anfänglich noch chronologisch dargestellt, später springen in der Zeit. Unterstrichen wird diese Perspektive durch kurze Schwarzblenden, die das Augenzwinkern des jungen Mannes andeuten sollen, der sich an seine unbeschwerte Jugend am Neuen Gymnasium erinnert. Mit zunehmender Desorientierung springen die Bilder am Ende, werden überlagert und spiegeln hierdurch die nurmehr vorhandenen Gedankenfetzen und die unkontrollierte Erinnerung wider.
Das unangenehme Tinitus-Geräusch zeigt sich wiederum in Abgrenzung zu dem Lied „Die Gedanken sind frei“. Die Melodie erklingt im Film erstmalig durch Kinderstimmen, um dadurch ein Gefühl der Unbeschwertheit hervorzurufen. Immer wieder wird das Lied eingespielt, doch stets in unterschiedlichen Versionen, die zunehmend nachdenklicher wirken. Die Cello-Einspielung in Moll verdeutlicht die Dramatik zum Ende des Films.

Die Farbgebung im Film in den Szenen der Jahre 1930 bis 1936 ist farbenfroh und bleibt bis zum Schuljahre 1937 hell und heiter. Ab dem Jahr 1938 wird der Film ausschließlich in blassen und tristen Farben präsentiert.

Ausgezeichnet und geehrt

Ende 2022 durften wir dann nach Berlin reisen, wo wir für unsere selbstgedrehten Biopics ausgezeichnet und uns der Margot-Friedländer-Preis feierlich übergeben wurde. Eindrücklich erlebten wir die 101-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, die persönliche und mahnende Worte an die junge Generation richtete und auch ausdrücklich ihr Interesse an den prämierten Schulprojekten aussprach.

Bild: Die Theater-AG bei der Preisverleihung des Margot Friedländer-Preises
© Franz-Ludwig-Gymnasium BambergBei der Preisverleihung des Margot-Friedländer-Preises zusammen mit der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer.
Bild: QR-Code
QR-Code abscannen und Dankes-Video zur Auszeichnung mit dem „Weißen Elefanten“ anschauen.

2023 stand letztendlich die Premiere unseres Spielfims „Wenn Zeiten dich ändern …“ an, die wir feierlich in der Aula unserer Schule abhalten konnten. Auch das Datum der Premiere war mit Bedacht gewählt: Auf den Tag genau 85 Jahre nach der Abiturverleihung am 23.3.1938 erinnerte unser Film an die damaligen Ereignisse. Eine Aufführung im Bamberger Odeon Kino im April schloss sich an. Beide Veranstaltungen waren bis auf den letzten Platz ausgebucht. 

Überraschend wurden wir mit dem Kinder-Medien-Preis 2023 „Weißer Elefant“ ausgezeichnet, der zeigt, dass unser Filmprojekt überaus geschätzt wird. Den Film (auf Deutsch und auf Englisch) stellen wir interessierten Leserinnen und Lesern gerne zum Download und Anschauen bereit (siehe Download-Block am Ende des Blogbeitrags). 

Bild: Die Schule versammelt sich auf dem Vorplatz des Gymnasiums.
© Franz-Ludwig-Gymnasium BambergGemeinsame Stolpersteinverlegung mit der Mittelschule Scheßlitz.

Gelebte Erinnerungskultur

Unterstützt mit Geldern des Jugendforums Bamberg gestalteten wir einen Beitrag für den Gedenktag am 9. November an die Reichspogromnacht 1938. In Verantwortung für unsere über 300 ehemals jüdischen Schülerinnen und Schüler nehmen wir seit Jahren an der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt Bamberg teil. In diesem Jahr bauten wir das Format um und luden zusätzlich andere Schulen aus Bamberg und Umgebung ein, um den entstandenen Film im historischen Raum unserer Aula wirken zu lassen. Eine besondere Kooperation haben wir dabei mit der Mittelschule Scheßlitz, die das Thema Erinnerung als Jahresthema 2023/24 lebt und eine Stolpersteinverlegung für 2024 auf regionaler Ebene umsetzen will.

Im Anschluss an unsere Filmvorführung hat eine Gesprächsrunde mit den Mitwirkenden stattgefunden. Auch interaktive digitale Formen der Partizipation wurden eingeplant, so dass die Schülerinnen und Schüler mit allen Sinnen den Erinnerungsort an unserer Schule kennenlernen konnte.

Mehr Details dazu, wie der Gedenktag 9. November 2023 an unserer Schule abgelaufen ist, erfahrt ihr bald in einem weiteren Blogbeitrag von uns. Bleibt gespannt!

Julia Behr

Julia Behr

Julia Behr unterrichtet am Franz-Ludwig-Gymnasium Bamberg die Fächer Deutsch, Geschichte und Politik und Gesellschaft. Seit 2017 produziert sie zusammen mit dem Lehrer Herrn Bickel und Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Spielfilme und Dokumentationen zu historischen Themen.

Joachim Bickel

Joachim Bickel

Joachim Bickel unterrichtet am Franz-Ludwig-Gymnasium Bamberg die Fächer Mathe und Physik. Seit 2017 produziert er zusammen mit der Lehrerin Frau Behr und Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Spielfilme und Dokumentationen zu historischen Themen.

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