Achtsamkeit in der Schule„In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Die Wurzeln der Achtsamkeit findet man in buddhistischen Traditionen von vor mehr als 2500 Jahren. Noch immer bietet sie viele Chancen, gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen. Gerade in den letzten Jahren aber wurde „Achtsamkeit“ zum Modebegriff. Dementsprechend war und ist das Angebot an Büchern, Apps und anderen Veröffentlichungen zum Thema in Discountern, Geschenkartikelläden und im Internet breit gefächert. Diese häufig bestenfalls populärpsychologische, teilweise sehr esoterische Herangehensweise wird der Bedeutung des Inhalts dabei leider in keiner Weise gerecht.

Symbolbild: Verschiedene Emotionen

In verschiedenen Metaanalysen wissenschaftlicher Studien wurde die Wirksamkeit der Achtsamkeit vor allem im Bereich der Emotionsregulation nachgewiesen. Zur Wirkung von achtsamkeitsbasierten Trainings in Bildungseinrichtungen gibt es bisher (noch) wenig methodisch starke Studien, da es sich um ein relativ junges Forschungsfeld handelt. Bereits vorliegende Metaanalysen und Einzelstudien lassen im Zusammenhang mit  achtsamkeitsbasierten Schülertrainings aber vorsichtige Rückschlüsse auf positive Effekte auf die psychischen Gesundheit, die Aufmerksamkeit, schulische Leistungen, das Sozialverhalten und die Reduktion von Stress bei Schülerinnen und Schülern zu. Auch bei Lehrkräften konnte eine Stressreduktion durch eine Verbesserung der Emotionsregulation und eine Stärkung der Selbstwirksamkeit im Rahmen von Achtsamkeitstrainings erzielt werden.

Was bedeutet Achtsamkeit?

Nach Kabat-Zinn ist man achtsam, wenn man den gegenwärtigen Moment bewertungsfrei und bewusst wahrnimmt. Der Grundansatz ist, alle Gefühle und Gedanken, alles Innere und Äußere aufzunehmen, ohne es unmittelbar und automatisch in „gut“ oder „schlecht“ einzuordnen. Auf den Punkt bringt das ein berühmtes Zitat von Viktor Frankl: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“

Symbolbild Freiheit

Achtsamkeit ist genau dieser Moment zwischen Reiz und Reaktion, der uns Freiheit im Handeln, Denken und Erleben verschafft. Damit wird auch ihre Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung eines Menschen offenbar: Automatismen sind in unserem Leben richtig und wichtig. Rituale geben uns Sicherheit und helfen, uns auf Wesentliches zu konzentrieren. In dem Moment, wo Automatismen die Kontrolle über uns übernehmen und uns unseres Handlungs- und Erlebensspektrums berauben, werden sie dysfunktional. Ein Achtsamkeitstraining kann helfen, sich der Wahlmöglichkeiten bewusster zu werden und durch einen kurzen Stopp zwischen Reiz und Reaktion den Blick für Alternativen zu öffnen. Achtsamkeit ist die Freiheit, die jeder Mensch in sich trägt – er muss sie nur erkennen können.

Zur besseren Verständlichkeit in der Praxis ein kleines Beispiel aus dem Alltag:

Stellen Sie sich vor, Sie haben wahnsinnig viel zu tun, wissen gar nicht, wo Ihnen der Kopf steht und der Kollege kommt zum vereinbarten Termin zu spät. Sie stehen am Treffpunkt und Ihre erste Reaktion ist es, sich über die Respektlosigkeit des Kollegen, der Ihnen Ihre kostbare Zeit stiehlt, zu ärgern, weil sie im Moment nichts tun können, als warten.
Möglicherweise verschlechtert sich Ihre Laune proportional zur Wartezeit, Sie werden immer nervöser und sehen permanent auf die Uhr („Jetzt sind es schon 15 Minuten! Was hätte ich in der Zeit alles tun können?“). Im schlimmsten Fall entsteht aus der Situation auch noch ein ernster Konflikt zwischen Ihnen und Ihrem Kollegen und Ihr gemeinsames Arbeitsergebnis lässt dementsprechend zu wünschen übrig.

Symbolbild Zusammenarbeit

Was wäre, wenn Sie in einer derartigen Situation völlig umdenken („reframen“) und die Wartezeit zunächst nicht bewerten, um sie dann in bewusster Entscheidung als Geschenk anzunehmen? Sie könnten die verfügbaren Minuten nutzen, um die Menschen, die Umgebung, Farben und Gerüche bewusst wahrzunehmen. Oder Sie spüren einfach in sich, machen eine kurze Atemübung und werden bestenfalls klarer und konzentrierter.

Die anschließende Arbeitsphase mit dem Kollegen ließe sich aus Ihrer entspannten Haltung heraus und dem Verständnis, das Sie für die Verspätung aufbringen, möglicherweise beiderseits viel produktiver nutzen. – War das nicht das eigentliche Ziel?

Warum kann Achtsamkeit für die Zukunft unserer Kinder elementar sein?

Übertragen auf die Welt der Kinder ist Achtsamkeit im Wesentlichen eines: eine bessere Emotionsregulation und damit ein verstärktes Gefühl der Selbstwirksamkeit. Wenn ein Kind sich bestimmten Situationen und seinen damit verbundenen Gefühlen nicht mehr ausgeliefert fühlt, sondern in ein Gestalten kommt, wächst langfristig der Mut, sich auch unangenehmen Dingen zu stellen und letztendlich sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Symbolbild Internet

Im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung könnte Achtsamkeit sogar wichtige Stütze im körperbezogenen Lernen werden: Entsprechende Wahrnehmungsübungen könnten vermisste sensorische, vor allem taktile Lernerfahrungen ermöglichen und im Sinne eines Ausgleichs einen Gegenpol zu unserem automatisierten, stark von Reiz-Reaktions-Schemata geprägtem „Klickverhalten“ im digitalen Raum bilden.

Kinder aus Elternhäusern mit ungünstigem Medienumgang werden zuweilen schon in den ersten Lebensmonaten durch audiovisuelle Reize „ruhiggestellt“, Emotionen und Bedürfnisse werden einfach „weg-entertaint“. Aufgrund der mangelnden Erfahrung im Umgang mit Langeweile und dem damit verbundenen Entdecken der eigenen „inneren Welt“ findet eine Beschäftigung mit sich selbst und den eigenen Sinnen im Extremfall kaum statt. Achtsamkeit kann hier die Entwicklung von Fähigkeiten zum frühzeitigen Erkennen und Verbalisieren eigener Emotionen und Bedürfnisse befördern. 

Ein weiteres Problemfeld, in dem sich die Achtsamkeit als unterstützende Maßnahme anbietet, sind die vielen unterschiedlichen Bedürfnisse und Hintergründe, die Kinder mit in die Klassenzimmer bringen. Die Themen Flucht, Migration und Inklusion konfrontieren Lehrerinnen und Lehrer mit psychischen und physischen Belastungen ihrer Schülerinnen und Schüler, die häufig jenseits der eigenen Vorstellungskraft liegen.

Achtsamkeit kann dafür sorgen, Hürden der Verständigung und somit des gegenseitigen Verständnisses zu überbrücken. Zentral ist dabei eine Kultur des Austauschs über Empfindungen, die zunächst offen und wertfrei zur Kenntnis genommen werden, ohne sie oder denjenigen, der sie verspürt, reflexartig in Schubladen zu packen.

Symbolbild Dialog

Wenn es grundsätzlich in Ordnung ist, so zu empfinden, wie es eben gerade der Fall ist, dann wird ein Kind mutig genug, diese Gefühle zu verbalisieren und mit anderen zu teilen. Haben Schülerinnen und Schüler durch Übung in ihrer Klasse auch das nötige Vokabular dazu, dann sind sie besser geschult, Bedürfnisse rechtzeitig zu vermitteln und damit Konflikte zu vermeiden. Die Verbalisierung ihrer Emotionen kann dabei bereits zu einer stärker kognitiven Verarbeitung und damit zu einer erhöhten Emotionskontrolle führen. Damit empfinden die Schülerinnen und Schüler mehr Selbstwirksamkeit und entwickeln sich langfristig bestenfalls zu stabileren Persönlichkeiten.

Zusammenfassend kann eine Achtsamkeitspraxis in Schulen zur Win-win-Situation für alle Beteiligten werden: Sie könnte positive Effekte auf Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrkräfte vereinen, Beziehungsarbeit außerhalb der Fachlehrpläne stärken und auf zukünftige Herausforderungen in Schule und Gesellschaft vorbereiten.

Dr. Barbara Gottschling

Dr. Barbara Gottschling

Frau Dipl.-Psych. Dr. Barbara Gottschling ist Staatliche Schulpsychologin und Regionalbeauftragte für Lehrergesundheit in der Oberpfalz.

www.km.bayern.de

Literaturhinweis zur Vertiefung:

Hölzel, B. (2022). Achtsamkeit in der Bildung: Empirische Befunde und neuronale Wirkmechanismen. In D. Bogner, M. Harant (Hrsg.), Bildung und Achtsamkeit (S. 75-93). Springer.

alle Bilder in diesem Beitrag: © Oleg – stock.adobe.com
 

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