VorweihnachtszeitHoffnungssamen inmitten der Kriegsangst
Für die aus der Ukraine geflohenen Kinder und Jugendlichen am Martin-Behaim-Gymnasium Nürnberg ist die Vorweihnachtszeit ein Wechselbad der Gefühle. Beim Plätzchenbacken und auf dem Christkindlesmarkt scheint der Krieg beinahe vergessen, doch Trauer und Verlust machen auch vor der Weihnachtszeit nicht Halt. Frau Dr. Gabriele Kuen, Schulleiterin am Behaim-Gymnasium, berichtet von den Erfahrungen, die sie zusammen mit den ukrainischen Schülerinnen und Schülern gemacht hat.
Plätzchenbacken an Nikolaus: Eine willkommene Abwechslung
Dienstagnachmittag am Martin-Behaim-Gymnasium in Nürnberg: Plätzchenduft verbreitet sich in den Fluren, aus der Schulküche dringt weihnachtliche Musik.
Es ist Nikolaustag und in der Küche stehen die 17 Kinder der Brückenklasse gruppenweise an den Arbeitsplatten, wiegen eifrig Zutaten ab, kneten Teig und stechen Plätzchen aus.
Unterstützt werden sie dabei von vier Schülern aus einer 10. Klasse und der Q12 – Oleg, Sascha, Danilo und Klim. Die vier Großen werden sofort von den Zehn- bis Zwölfjährigen umlagert – sprechen sie doch fließend ihre vertraute Muttersprache.
Vorbereitung auf die bayerische Schullaufbahn dank Brückenklasse und InGym-Kurs
Initiiert und finanziert hat die Nikolausaktion der Elternbeirat, der eigens einen Beauftragten für die ukrainischen Schülerinnen und Schüler am Behaim bestimmt hat. Denn nicht nur in der Brückenklasse, sondern auch in den InGym-Kursen werden Jugendliche aus der Ukraine durch intensiven DaZ- und Fach-Unterricht auf die Fortsetzung ihrer Schullaufbahn an einer Regelschule in Bayern vorbereitet. Während in der Brückenklasse Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klasse ohne vorherige Einschätzung ihrer kognitiven Lern- und Leistungsfähigkeit aus der näheren Umgebung zusammengefasst sind, mussten die Jugendlichen, die in den InGym-Kurs aufgenommen werden wollten, einen Eingangstest in Englisch und Mathematik bestehen. Den 13 Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieses Kurses wird zugetraut, nach einem halben Jahr als Gastschülerinnen und Gastschüler in eine gymnasiale Regelklasse wechseln zu können.
Mutter und Deutschlehrerin mit ukrainischen Wurzeln: Frau Gossen als Glücksfall für unsere Schule
Die Kinder der Brückenklasse werden von ihrer Klassenleiterin und DaZ-Lehrerin Frau Galyna Gossen unterrichtet: Sie hat selbst ukrainische Wurzeln, ist ausgebildete Deutschlehrerin und als Mutter eines Sechstklässlers auch aus Elternsicht mit allen organisatorischen Abläufen am Behaim-Gymnasium bestens vertraut.
Neben der Brückenklasse unterrichtet Frau Gossen auch im InGym-Kurs und ist als Übersetzerin, Vermittlerin und Beraterin für Kinder, Eltern und die Schulleitung aus unserem Team nicht mehr wegzudenken.
Vorweihnachtliche Traditionen in der Heimat und in Nürnberg
Frau Gossen ist natürlich beim Plätzchenbacken auch dabei. Am Vormittag des Nikolaustags hatte sie mit den Kindern schon während des Unterrichts ein wenig gefeiert. Im Gespräch mit den Kindern über ihre Traditionen in der Vorweihnachtszeit werde ich dann allerdings darüber aufgeklärt, dass in der Ukraine der Nikolaus die Kinder nicht am 6., sondern erst am
19. Dezember beschenkt. „Das liegt daran, dass bei uns Weihnachten erst am 6. Januar gefeiert wird.“, belehrt mich Schüler Denys freundlich. „In der Vorweihnachtszeit stand bei uns in der Schule oder in der Sporthalle traditionell ein prächtig geschmückter Tannenbaum, unter dem selbst gebastelte Geschenke lagen.“ Bei dieser Erinnerung strahlen Katyas Augen. Ihr Mitschüler Rostyslav pflichtet bei und ergänzt: „Es gab auch immer Wettbewerbe bei uns in der Schule, wer das schönste Bild zu Weihnachten malt oder etwas Besonderes bastelt.“ Das bringt mich spontan auf die Idee, das auch am Behaim einzuführen. Auf meinen Vorschlag hin, weihnachtliche Motive zu malen oder zu basteln, die wir beim Weihnachtskonzert ausstellen können, melden sich gleich einige begeistert.
Amina erzählt von der Tradition, dass am Weihnachtstag die Kinder und Jugendlichen von Haus zu Haus gehen und Samen verstreuen. Dazu singen sie einheimische Weihnachtslieder und werden dafür mit Süßigkeiten beschenkt. Dieses Ritual soll Glück bringen für das Haus und seine Bewohner. Auf meine Bitte hin stimmt sie, begleitet von den Mitschülern mit glockenreiner Stimme eines davon an – ein bewegender Moment! Wir vereinbaren, dass sie mit ihrer Klasse das Lied beim Weihnachtskonzert in der Kirche singen darf. Außerdem sollen die Konzertbesucher am Ende ein Samentütchen als Zeichen der Erinnerung und der Hoffnung bekommen.
Das Highlight: Ausflug zum Nürnberger Christkindlesmarkt
Besonders gefallen hat allen Kindern ihr Ausflug zum Nürnberger Christkindlesmarkt, auch wenn dort alles, wie sie einschränkend anmerken, ziemlich teuer ist. „Am schönsten fand ich den internationalen Weihnachtsmarkt. Da gab es sogar einen Stand aus der Ukraine, aus Charkiw, das habe ich nicht erwartet und das hat mich besonders gefreut.“, erinnert sich Sofia. Lisa und die anderen nicken zustimmend.
Plätzchen gelungen – der Krieg scheinbar weit weg
Mittlerweile haben die Plätzchen im Ofen schon eine verlockend goldgelbe Farbe angenommen. Gleich können sie verkostet werden. Herrlich duftend werden sie zum Abkühlen auf die Arbeitsplatte gestellt. Nur ganz wenige werden jedoch probiert, die restlichen werden fein verpackt für die Lieben „daheim“. Für ein paar Stunden scheint der Krieg weit weg zu sein.
Wenn die Realität zurückschlägt
Am nächsten Tag mit brutaler Wucht dann die Gewissheit: Nein, der Krieg ist auch für die ukrainischen Kinder und Jugendlichen am Behaim ganz nah. Uns erreicht der Anruf der Dolmetscherin der Familie einer InGym-Schülerin: Die Schülerin bleibt bis zum Ende der Woche zuhause – ihr Vater ist an der Front für seine Heimat gestorben. Im wahrsten Sinn des Wortes unfassbar und doch immer befürchtet. Wieder sind wir dankbar, Frau Gossen zu haben, die der Klasse zusammen mit der Schulpsychologin die traurige Nachricht überbringt. Ein Anruf bei KIBBS (Kriseninterventions- und -bewältigungsteam bayerischer Schulpsychologinnen und Schulpsychologen) ergibt, dass es bisher keinen Präzedenzfall gab, an dem wir uns orientieren können, man sagt uns aber Unterstützung zu. Wir formulieren einen Elternbrief für die InGym-Familien – dank Frau Gossen natürlich in authentischer russischer Sprache. Was muss in den Familien vorgehen, wenn sie das erfahren? Was können wir als Schule tun? Wenig, aber wenigstens signalisieren, dass wir da sind für die betroffene Schülerin und ihre Mutter und auch für die anderen, die jetzt natürlich noch mehr Angst um ihre Angehörigen haben.
Die Jugendlichen des InGym-Kurses versuchen ihre Mischung aus Mitgefühl, Trauer und Angst in einem gemeinsamen, handgeschriebenen Brief an die Mitschülerin zu verarbeiten. Als Zeichen der Hoffnung fügen sie noch selbst gefaltete Papierkraniche hinzu. „Als der Brief und die Kraniche in einem großen Umschlag gepackt wurden, konnte man merken, dass die Stimmung aufgehellt wurde. Das hat den Kindern und auch mir sehr gutgetan.“, beschreibt Frau Gossen die bewegende Reaktion des Kurses. Die Jugendlichen werden ihre Zeit brauchen, um sich wieder dem Schulalltag zuwenden können, gleichzeitig hilft ihnen dieser sicher auch, um sich von ihren Sorgen um Verwandte in der Ukraine abzulenken.
Ein Weihnachten zwischen Trauer, Zusammenhalt und Hoffnung
Die Kinder der Brückenklasse haben offenbar noch nichts von dem schlimmen Ereignis erfahren. Sie versammeln sich tags darauf zum Gruppenfoto am Schul-Christbaum und planen ihren Auftritt beim Weihnachtskonzert. Und mir wird in eklatanter Weise bewusst: Die Zerrissenheit der Gefühle, die für uns als „Außenstehende“ an der Schule kaum zu ertragen ist und die Banalitäten des Alltags marginalisiert, erleben die Kinder und Familien aus der Ukraine täglich und unmittelbar. Man kann nur wünschen, dass auch für sie Weihnachten heuer zumindest ein bisschen zum Fest des Zusammenhalts und der Friedenshoffnung wird.
Gabriele Kuen
Gabriele Kuen ist seit 2015 Schulleiterin am Martin-Behaim-Gymnasium, einer Schule im Süden Nürnbergs mit der Tradition, Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer kulturellen und sozialen Herkunft die Chance auf die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ihrer Talente zu eröffnen – und das nicht nur und in erster Linie im Blick auf die evaluierbare Leistung, die im Zeugnis steht. Ein von gegenseitigem Respekt geprägtes Menschenbild und demokratische Werte in der Schule für die Schülerinnen und Schüler erlebbar zu machen, ist daher die zentrale Intention der Schulleiterin und ihres Teams.